Einleitung
Ein Kind stürmt, deinen Namen lauthals schreiend, auf dich zu und umarmt dich vor Wiedersehensfreude so fest, dass dir schier die Luft wegbleibt. Mit strahlender Neugier fragt es dich über alle nahestehenden Personen aus und ist dabei so aufgeregt, dass es mit den Fingern vor dem Mund flattert. Es erinnert sich genau, wann es dich wo und aus welchem Grund zum letzten Mal gesehen hat. Im Verlauf des angeregten Gesprächs wechselt die Position der Hände. Von oben sind sie nun zwischen den Schulterblättern, wo sie – sich vor Aufregung reibend – verweilen, bis das Kind daran erinnert wird, dass es seine Engelsflügel (die Arme wirken dabei als solche) wieder ablegen darf. Wenn es sich freut, umarmt es sich zuweilen selbst, die Finger sind dabei hinter dem Rücken immer in Bewegung. Einzigartiges Verhalten, möchte man meinen. Manchmal ändert sich die Stimmung schlagartig. Das Kind wirft sich lauthals weinend auf den Boden, schleudert alles, was ihm zwischen die Finger kommt, durch die Gegend, geht wutentbrannt und sich selbst fremd wirkend auf Gegenstände sowie auf Menschen los und ist weder zu beruhigen noch zu bändigen. Woher kommt dieses Verhalten?
Weitere besondere Verhaltensweisen könnten hier aufgeführt werden. Das Kind, von welchem hier die Rede ist, hat das Smith-Magenis-Syndrom; und hat man einmal die Gelegenheit, weitere Menschen mit diesem Syndrom kennenzulernen, so traut man zunächst seinen Augen nicht. Es gibt noch mehr Kinder und Erwachsene, die sich vor Freude selbst umarmen, im Gespräch mit den Fingern vor dem Mund flattern oder sich schlagartig in einem Wutanfall auf dem Boden wiederfinden.
Dank der deutschlandweiten Elterninitiative SIRIUS e. V., in welcher sich Eltern von Kindern mit dem Smith-Magenis-Syndrom zusammengefunden haben, bestand die Möglichkeit, an direkte und deutschsprachige Informationen zu diesem seltenen Syndrom zu gelangen und sie mit der bestehenden, fast ausschließlich englischsprachigen Literatur zu vergleichen. Diese Zusammenstellung befindet sich auf dem Stand von 2019, jüngere Erkenntnisse sind nicht berücksichtigt.
Das Smith-Magenis-Syndrom
Das Smith-Magenis-Syndrom (im Folgenden: SMS) wurde 1982 zum ersten Mal durch die zwei Genetikerinnen Ann Smith und Ellen Magenis beschrieben (Gropman, Duncan und Smith 2006 [1]). Es ist ein sehr seltenes genetisches Syndrom, das durch das Fehlen oder durch eine Veränderung der genetischen Information am kurzen Arm des Chromosoms 17 entsteht. In den meisten Quellen wird eine Prävalenzrate von 1:25.000 Geburten beschrieben, jedoch häufig mit dem Zusatz, dass das Syndrom unterdiagnostiziert sei. Experten schätzen daher eine Häufigkeit von 1:15.000-25.000. Es handelt sich also um ein seltenes und unbekanntes Syndrom, bei welchem noch Vieles unerforscht ist. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei nahezu allen Quellen um englischsprachige, wissenschaftliche Studien und Forschungsberichte (Paper) handelt. Zudem wurden die Studien oftmals mit sehr kleinen Teilnehmerzahlen durchgeführt, was einen Einfluss auf die Aussagekraft haben kann.
Die meisten Menschen mit SMS haben eine geistige Behinderung und zeigen charakteristische Verhaltensweisen. Auch medizinische Symptome (kraniofaziale Besonderheiten, skeletale Abweichungen, körperlich-organische Beeinträchtigungen), Sprach- und Entwicklungsverzögerungen und Schlafstörungen prägen das Bild des Syndroms (Elsea und Girirajan 2008 [2]). Für alle Aspekte des Syndroms gilt, dass sie stets in unterschiedlicher Ausprägung auftreten und nicht alle bei einem Individuum mit SMS vorkommen müssen. Eines haben jedoch alle Menschen mit SMS gemein, und das ist die veränderte genetische Information auf Chromosom 17. Aber auch die genetische Veränderung ist nicht bei allen exakt gleich.
Genetische Definition
Wer sich mit dem Smith-Magenis-Syndrom näher beschäftigt, muss sich nicht nur an die Kurzform SMS gewöhnen, sondern auch an ein weiteres Kürzel in Form von Zahlen und Buchstaben. In der Genetik ist nicht unbedingt von SMS die Rede, sondern hauptsächlich von der del17p11.2. Dabei steht „del“ für Deletion und bedeutet aus dem Lateinischen kommend „auslöschen“. Die 17 bezeichnet das Siebzehnte der 23 Chromosomenpaare des Menschen. Das „p“ (aus dem Französischen von „petit“ abgeleitet) besagt, dass es sich um den kurzen Arm dieses Chromosoms handelt. Die Genetik ermöglicht es, noch genauer hinzusehen und sogenannte Bandenmuster eines Chromosoms zu differenzieren. Das Band, welches für SMS verantwortlich ist, trägt die Nummer 11.2 (Haas-Givler und Finucane 2014 [3]). Diese Arbeit beschäftigt sich also genau genommen damit, welche Folgen es hat, wenn ein mikroskopisch kleiner Teil der genetischen Information eines Menschen (nämlich am Band 11.2 des kurzen Arms des Chromosoms 17) fehlt. Folgende Abbildung (Abb. 1) zeigt die Bandenmuster um die besagte Region und verdeutlicht das Fehlen des Bandes 11.2.
Mit sehr wenigen Ausnahmen ist die Ursache des Syndroms eine De-novo-Deletion, tritt also zufällig und nicht durch eine genetische Veranlagung der Eltern auf. Dennoch wird bei einem neu entdeckten Fall von SMS den Eltern geraten, sich ebenfalls zytogenetisch testen zu lassen (Gropman et al. 2006 [1]). Es kann den Eltern aber nahezu vollständig die Sorge genommen werden, dass ein Grund für die Behinderung ihres Kindes bei ihnen liegt, es besteht auch ein sehr geringes Wiederholungsrisiko. Wenn die Untersuchung der elterlichen Gene keine Auffälligkeiten ergibt, liegt das Risiko, dass weitere Geschwister eine SMS-Deletion haben, unter 1% (Smith et al. 2012 [4]).
Laut Elsea und Girirajan (2008 [2]) liegt in 90% der Fälle von SMS eine Deletion vor, wobei sich die Größe dieser Deletion unterscheiden kann. So hat ein Großteil (70 % der 90 %) eine sogenannte gewöhnliche (Common) Deletion, während diese bei den übrigen 30 % mal größer (Large) und mal kleiner (Small) ausfällt. Folgende Abbildung verdeutlicht dies, wobei die unterschiedlichen Deletionen nicht immer exakt diese Größen haben. Das in der Mitte abgebildete RAI1-Gen ist aber bei jeder 17p11.2-Deletion inbegriffen (Abb. 2).
In den übrigen 10% der Fälle liegt keine Deletion, sondern eine Mutation (Veränderung) dieses sogenannten RAI1-Gens vor. Die meisten Eigenschaften bzw. Besonderheiten von SMS sind die Folge der Deletion oder Mutation von ebendiesem RAI1-Gen, wohingegen die Variabilität und der Schweregrad der Behinderung durch andere Gene in der 17p11.2-Region modifiziert werden. Die molekulargenetische Bestätigung von SMS ergibt sich folglich durch die Feststellung einer 17p11.2-Deletion, die das RAI1-Gen miteinschließt, oder einer Mutation des RAI1-Gens.
Die gesamte Facharbeit finden Sie in unserer Vereinsbroschüre (S. 12 ff.).